Fachkräfte der Kreativwirtschaft haben oft, aber nicht immer, etwas mit Talent zu tun. Umgekehrt meint Talent oft, aber eben nicht immer, die „Kreativen“. Der freie Künstler hatte bereits im alten Rom eine besondere Stellung. Künstlerische Selbstverwirklichung setzt Talent voraus und wird nicht mit „Arbeit“ im Sinne von fremdbestimmtem „Schuften“ gleichgesetzt. Gerade wenn es um die „Work-Life-Balance“ geht, und darum geht es im Recruiting oft, sollten wir uns „work“ genauer ansehen. Ist die starre Trennung zwischen Arbeits- und Freizeit in der Kreativwirtschaft überall angebracht? Automatisierung ändert Tätigkeitsfelder von Beschäftigten. Zunächst nur in Fabriken allerdings verdrängen denkende Maschine heute auch Sachbearbeiter*innen. Gerade in der Logistik und Gastronomie, wo der Ruf nach Personal am lautesten ist, fehlen keine Fachkräfte, sondern Hilfskräfte. Was bedeutet das alles für die Film- und Fernsehbranche? Wen beschäftigt noch die früher alles entscheidende Frage: „Wie werde ich reich und berühmt?“
Der Talent Summit beim Filmfest München tritt auch dieses Jahr wieder mit dem Anspruch an, die Hintergründe zu Mechaniken, Risiken und Chancen mit Topentscheider*innen zu diskutieren. Die Frage nach dem „Warum“ ist im Zweifel für den Einzelnen spannender als die Karriere eines individuellen Einzelschicksals – vom erfolgreichen oder gescheiterten Star. In einer Branche mit einem Tarifvertrag mit 50 Wochenarbeitsstunden lohnt sich auch der Blick in die globale Entwicklung, in der europäische Länder eher auf die Vier-Tage-Woche setzen. Deutschland produziert mit dem Dualen Ausbildungssystem und vielen Studiengängen „Berufe“, die für denjenigen, der ihn ausübt, auch Identität stiftet. Dabei ist gerade in unserer Branche der Begriff „Arbeit“ undefiniert.
In der konkreten Anwendung ergeben sich zudem Herausforderungen beim Aufeinandertreffen deutscher Praxis mit internationalen Gepflogenheiten. Cassandra Han wird uns einen Einblick in ihren Alltag als Casting Director (w) geben. Sie arbeitet mit internationalen Schauspielerinnen und Schauspielern für deutsche und europäische Projekte, mit amerikanischen Managern und den großen US Agencies, aber eben auch mit anderen europäischen Ländern. Germar Tetzlaff (Paramount), Timm Oberwelland (Tobis), Tania Reichert-Facilides (Studio Hamburg), Florian Deyle (Unified Film Makers) und Martin Blankemeyer (Münchner Filmwerkstatt) beteiligen sich mit sachlichem und fachlichem Input zu den aktuellen Herausforderungen der Filmwirtschaft.
Richard David Precht widmet sich in seinem aktuellen Buch „Freiheit für alle“ auch der Definition von Arbeit. Auf unsere Branche übertragen, leitet sich daraus direkt auch die Frage nach Hilfs- und Fachkräften ab, die Frage wie eine optimale Ausbildung aussehen müsste und wie die Perspektive für die jeweilige Karriere aussehen kann – und auch, wer sich um die Karriereplanung kümmert. „Berufe“ mit identitätsstiftender Anziehungskraft, zum Beispiel Schauspielerin oder Schauspieler, verlieren die Magie, je näher man Betroffenen kommt. Ist jemand besonders erfolgreich und kommt mit einem Film pro Jahr aus, lebt abwechselnd in Los Angeles, Mallorca und Berlin, hat der Beruf Strahlkraft. Viele Schauspieler*innen haben nur wenige Projekte pro Jahr, viele auch jahrelange gar keine. Wer keine Star-Gage bekommt wird wohl oder übel in der Restzeit irgendeiner anderen Erwerbstätigkeit nachgehen müssen. Wer also nur einen Film im Jahr hat, aber ansonsten in der Gastronomie oder an der Supermarktkasse arbeitet – ist der oder die dann kein*e Schauspieler*in?
Unsere Gesellschaft definiert sich über Erfolg und Leistung. Der Antrieb junger Menschen liegt dabei vielmehr im „Sinn“ oder der „Wirkung“ des eigenen Schaffens. Als integrativ Beteiligte der Kreativwirtschaft steht am Ende jeder Produktion ein fertiges Produkt. Im besten Fall erscheint der eigene Name im Abspann oder wenigstens in den einschlägigen Nennungsportalen. Die gute Nachricht ist auch, dass individuell lösungsgetriebene Tätigkeiten auch langfristig schwerlich von Computern ersetzt werden. Bei der Entscheidung vor Ort, welches Ersatzmotiv gewählt wird, entscheidet aus gutem Grund ein Mensch. Der hohe Anteil kollaborativer Arbeit erzeugt Gemeinschaftsgefühle und befriedigt damit unsere innersten Sehnsüchte nach gegenseitiger Anerkennung. Ein so sinnstiftender „Job“ braucht wohl deshalb auch oftmals keine „Berufsbezeichnung“, ist sie eh nur die Beschreibung der aktuellen Tätigkeit auf einer Reise durch verschiedene Positionen, die selten durch Studium oder Zeugnisse eingeschränkt werden. Wenn wir also gar nicht so genau zwischen Arbeits- und Freizeit unterscheiden müssen, nehmen wir die spätabends kommende Dispo gutgelaunt zur Kenntnis. Wenn „Work“ also gar nicht vergleichbar mit der 8-Stundenschicht in der Fabrikhalle ist, sondern an sich positiv belegt ist, kann die Arbeit selbst auch Teil der „Work-Life-Balance“ sein, als Teil des Lebens. Ein Hausmann oder eine Landwirtin arbeiten und leben mit verschwimmenden Grenzen, insbesondere bezüglich der örtlichen und zeitlichen Trennung. Precht stellt in seinem oben erwähnten Buch viele Fragen, wie „arbeitet ein Bettler eigentlich?“, die in Summe schlecht auf die Kreativwirtschaft übertragbar sind. Dennoch trifft er die Probleme auch unserer Branche ins Herz.
Ein spannender Aspekt beim Talent Summit sind immer die persönlichen Gespräche. Darin zeigt sich in der Regel auch, dass eine Karriere schwerlich planbar ist und vieles vom Zufall abhängt. Für viele Herausforderungen hat schon irgendjemand eine Antwort gefunden. Wir wollen diese Erkenntnisse für uns alle gemeinsam nutzbar machen. Teamarbeit war und ist das prägende Element von Film und Fernsehen, in der Produktion, Vermarktung und Verbreitung.
Live und in Präsenz beim Talent Summit beim Filmfest München am 30.06.2022 von 14.30 Uhr bis 17 Uhr - Wir sehen uns!
Dein Ensider:Team